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Seniorenhilfe

Der Wald als Partner

Im ASB-Seniorenheim St. Andreas in Homburg geht man den Werdenfelser Weg, um freiheitsentziehende Maßnahmen für Bewohner mit demenziellen Erkrankungen zu verringern. Auch eine Lichtung spielt dabei eine Rolle.

Sonne fällt durch das Blätterdach. Fast glaubt man Vögel singen zu hören und das Klopfen eines Spechts. Vermuten würde so etwas natürlich niemand in einem Seniorenzentrum. Aber es gibt diese Lichtung tatsächlich: in dem von Nadine Gimbel geleiteten Wohnbereich EG des ASB-Seniorenheims St. Andreas im Homburger Stadtteil Erbach. Zwar nur in Form einer Fototapete, seine Wirkung entfaltet der zweidimensionale Sehnsuchtsort dennoch. „Er strahlt Ruhe aus“, sagt die examinierte Pflegerin, die regelmäßig beobachtet, dass sich jemand „auf der Lichtung“ entspannt.

Wie gesunde Menschen verknüpfen die meisten unter Demenz Leidenden den Wald mit schönen Erinnerungen, sei es aus der Kindheit, aus dem Urlaub oder früheren Freizeitbeschäftigungen. Diese positiven Gefühle aktivieren die Mitarbeiter der Einrichtung mittels einer neuen Wandgestaltung. Außer Abbildungen von Bäumen und Tieren sind dort auch Fühlstrecken integriert. Diese kann man sich wie einen Barfußpfad vorstellen, nur eben für Hände.

Alle diese sinnlichen Eindrücke vermitteln den desorientierten, verwirrten Bewohnern Geborgenheit – ein großer Gewinn für jemanden, der unter diffusen Ängsten leidet. Ein weiteres Charakteristikum dieser mit dem schrittweisen Verlust der geistigen Fähigkeiten einhergehenden Erkrankung ist die Hin- und Weglauftendenz. Wenn sich Betroffene damit selbst gefährden, etwa, wenn sie nicht sicher laufen können und es zwangsläufig zu Stürzen kommt, sie aber trotzdem aus dem Bett aufstehen oder die Einrichtung verlassen wollen, sind freiheitsentziehende Maßnahmen (FEM) unumgänglich. Dazu zählen beispielsweise Bettgitter, Bauchgurte, Trickverschlüsse an Türen oder Vorsatztische, aber auch der Einsatz bestimmter Medikamente. Gerichte ordnen in Deutschland jedes Jahr rund 50.000 solcher Maßnahmen an. Doch es geht auch anders, wie man in Erbach sehen kann.

Schon vor vier Jahren entschied sich die Einrichtung für den „Werdenfelser Weg“. Initialzündung war 2016 die entsprechende Weiterbildung des heutigen Einrichtungsleiters Alexander Nashan in München. Nach ihrem Start 2007 in Garmisch-Partenkirchen hatte sich die Initiative mit großer Geschwindigkeit bundesweit ausgebreitet und stieß auch in der Homburger ASB-Einrichtung auf großes Interesse. Der „Werdenfelser Weg“ vereint Menschen, die sich aktiv darum bemühen, Fixierungen und Freiheitsentziehungen von kranken und alten Menschen zu vermeiden, wo immer das vertretbar ist. Auf den Prüfstand kommt dabei nicht zuletzt die Medikation von Sedativa und Neuroleptika gemäß dem Grundsatz „Mehr Reduktion bedeutet mehr Freiheit“. Und siehe da: Es ist erstaunlich oft vertretbar. Das kann Natalie Gimbel nur bestätigen. Konnte doch der von ihr geleitete geschlossene Bereich um 50 Prozent verkleinert werden. Der andere, neu geschaffene Bereich ermöglicht den Bewohnern ein autonomes Verlassen des Wohntraktes.

Der Ansatz des Werdenfelser Weges ist verhältnismäßig einfach, indem er auf spezialisierte Verfahrenspfleger im Rahmen des gerichtlichen Genehmigungsverfahrens setzt. Diese nehmen mittels ihrer fachlichen Pflegekompetenz Verfügungen und Fixierungsentscheidungen im Einzelfall unter die Lupe – immer im Bemühen, weniger eingreifenden Maßnahmen oder Alternativen zu finden, die gänzlich ohne den Entzug der Freiheit auskommen. Alexander Nashan als erstem Verfahrenspfleger in der Erbach werden Nadine Gimbel und Pflegedienstleiterin Claudia Kiefer folgen, die sich ebenfalls ausbilden lassen.

Zum gemeinschaftlich erarbeiteten Konzept gehören interne Schulungen. Schritt für Schritt entwickelte sich so im Haus eine neue Kultur der Bewertung und des Umgangs mit FEM. 2019 bis 2020 erfolgte schließlich die komplette Umgestaltung des Wohnbereichs. Das Ergebnis dürfte selbst die Skeptiker überzeugt haben: „Es zeigt sich, dass die Bewohner, wenn sie länger bei uns sind, ruhiger werden“, so Claudia Kiefer. Fixierungen mit den oben genannten Hilfsmitteln „gibt es gar nicht mehr“. Um die Sturzgefahr zu verringern, setzt man auf ein ganzes Bündel an Maßnahmen, darunter Kraft- und Balancetraining, Reduzierung von Stolperfallen, geeignete Bekleidung wie rutschfeste Socken/feste Schuhe, Hüftschutz-Protektorenhosen und Sturzhelme, hellere Beleuchtung oder Stärkung des Selbstbewusstseins. Unterstützend kommen Niederflurbetten, Safebags, Sensormatten und ähnliches zum Einsatz. Bei den Medikamentierungen wurde ebenfalls viel erreicht: „Die konnten wir komplett über die Hälfte reduzieren.“ Bewährt hat sich, dass die regelmäßig erfolgende Rahmenvisite mit den behandelnden Neurologen von Einrichtungs- oder Pflegedienstleitung begleitet wird und man entsprechende Fallbesprechungen terminiert, ergänzt Nadine Gimbel.

Generell harmoniert der Werdenfelser Weg mit der in den Einrichtungen des ASB praktizierten kongruenten Beziehungspflege. „Beide Herangehensweisen ergänzen und fördern einander“ im Bemühen, individuelle Bedürfnisse, Wünsche und Rituale soweit es geht, zu berücksichtigen. Wertschätzend miteinander umzugehen und eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, hilft ebenfalls dabei, die Verhaltens bedingte Selbstgefährdung dementer Bewohner zu verringern und die Lebensqualität aller Mitbewohner zu verbessern.

Die Resultate sind ermutigend – und kommen auch bei den Angehörigen sehr gut an. „Die freuen sich, wenn der Vater oder die Mutter in den offenen Wohnbereich wechseln kann“, im letzten Jahr war das immerhin bei vier von fünf neuen Bewohnern mit Hin- und Weglauftendenz der Fall. Für das Team um Alexander Nashan der beste Beweis, mit dem „Werdenfelser“ auf dem richtigen Weg zu sein.